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7 Aktuelles aus Wirtschaft & Politik Folgen der Energieverknappung und -verteue- rung aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stark unter Druck. Eine De- industrialisierung Europas mit einer Verlagerung der Produktion in andere Weltregionen würde jedoch durch wahrscheinlich umweltschädliche- re Produktionsverfahren und zusätzliche Trans- porte die Erreichung der EU-Nachhaltigkeitszie- le auf globaler Ebene gerade konterkarieren statt sie zu befördern. Auch die Verteidigungsindustrie ist bislang in der Taxonomie als nicht nachhaltig eingestuft, ob- wohl der Ukrainekrieg die hohe Relevanz der Verteidigungsfähigkeit demokratischer Staaten unterstreicht und die EU gleichzeitig die Europäi- sche Verteidigungsunion stärken will, um die Ab- hängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten, die im Ukrainekrieg wieder deutlich wurde, zu reduzieren. Zwar wurde die pauschale Negativ- beurteilung des ersten Taxonomieentwurfs ab- gemildert; eine positive Einstufung erfolgte je- doch nicht, so dass viele Kreditinstitute Waffen- produzenten derzeit sanktionieren. Hier scheinen unterschiedliche Strömungen in der EU-Kom- mission gegeneinander zu arbeiten – oder es gilt schlicht das alte Sprichwort: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“: Die Verteidi- gungsfähigkeit ist zwar gut und notwendig, aber die dafür notwendigen Waffen sind schlecht. Große, kapitalmarktorientierte Unterneh- men werden die Folgen der Taxonomie wahrscheinlich sofort spüren. Aber was ist mit dem Mittelstand? Hier ist ja oft noch der klassische Kredit der Hausbank das Finanzierungsmittel. Röhl: Auch der Mittelstand ist von der Taxono- miestarkbetroffen,dadieFinanzbranchebeider Umsetzung der Regelungen allenfalls Kleinbe- triebe und kleine Mittelständler ausnehmen wird, aber nicht den industriellen Mittelstand, der oft die KMU-Kriterien der EU (unter 250 Beschäftig- te, maximal 50 Millionen Euro Umsatz) über- schreitet. Das Beispiel der Verteidigungsindustrie zeigt sogar, dass der Mittelstand besonders be- troffen ist: Spezialisierte Mittelständler im Sicher- heits- und Verteidigungsbereich werden in der Taxonomie nicht als nachhaltig eingestuft, wäh- rend Konzerne, bei denen weniger als 20 Prozent des Umsatzes auf den Verteidigungssektor ent- fallen, zumindest theoretisch aufgrund des Über- gewichts anderer Zweige die Taxonomie-Kriteri- en einhalten können. Damit verletzt die Taxono- mie das in der Europäischen Mittelstandspolitik festgelegte „Think Small First“-Prinzip. Künftig werden auch nicht berichtspflichti- ge Unternehmen mittelbar von der Taxono- mie berührt sein, wenn sie zum Beispiel von berichtspflichtigen Geschäftspartnern oder Banken aufgefordert werden, relevante Nachhaltigkeitsinformationen zur Verfü- gung zu stellen. Was sollte ein mittelständi- scher Industriebetrieb mit vielleicht 450 Mit- arbeitenden aus der Stahl- und Metallverar- beitung tun? Kann er sich zurücklehnen, weil ihn das Thema zumindest vorerst nicht betrifft, oder sollte er sich vorauseilend damit beschäftigen? Röhl: Wie bei den Regelungen des Europäi- schen Lieferkettengesetzes wird es in der Taxo- nomie voraussichtlich nicht gelingen, formal be- stehende Ausnahmen für kleine und mittlere Unternehmen praxistauglich umzusetzen. Auch der Mittelstand muss sich daher frühzeitig mit der Taxonomie befassen, die eigene Produktion auf die Kriterien hin bewerten und beispielswei- se mit der Hausbank abklären, ob diese die Ge- schäftsbeziehung auch dann beibehalten wird, wenn das Unternehmen in der Taxonomie als nicht (ausreichend) nachhaltig eingestuft wer- den sollte. Im Zweifelsfall sollten sich mittelstän- dische Industriebetriebe bereits nach einem Bankpartner umsehen, der bereit ist, auch zu „nicht nachhaltigen“ Unternehmen Kundenbe- ziehungen zu unterhalten – wenn auch zu höhe- ren Finanzierungskosten als bislang gewohnt. Wir bedanken uns für das Gespräch. K Nachrichten 3-2022