Arbeitsmarkt - Fachkräftesicherung in turbulenten Zeiten

Die Digitalisierung markiert den Weg zu einer Wohlstand sichernden, CO2-freien Wirtschaft. Sie vollzieht sich vielerorts langsamer als erwünscht, weil die IT-kompetente Arbeitnehmer fehlen. Das bedeutet: Auf mittlere bis lange Sicht werden sich die Fachkräfteengpässe noch verschärfen.

Dr. Oliver Stettes

Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) signalisieren: Der Arbeitsmarkt befindet sich derzeit noch in einem robusten Zustand, allerdings haben sich die Aussichten etwas eingetrübt. Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bewegt sich im Grunde noch immer auf Rekordniveau, ist aber zuletzt kaum noch angestiegen. Die Spuren der Covid-19-Krise auf dem Arbeitsmarkt sind weitgehend verschwunden, und der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat bislang nur eine kleinere Delle auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. So fiel die übliche Frühjahrsbelebung verhalten aus, und die Arbeitslosigkeit ist leicht angestiegen.

Wo stehen wir gerade?

Der Bestand an offenen Stellen ist zwar weiterhin hoch, allerdings gehen die monatlichen Zugänge seit geraumer Zeit zurück. Das Einstellungsverhalten der Unternehmen wird zurückhaltender. Die Beschäftigungserwartungen der Unternehmen haben sich zuletzt leicht in den negativen Bereich gedreht. Laut IW-Konjunkturumfrage vom Juni 2023 gehen zum Beispiel 35 % der Industrieunternehmen von einem Beschäftigungsabbau in diesem Jahr aus, nur 23 % von einem Aufbau. Im Frühjahr war dieser Saldo noch positiv: 31 % der Industrieunternehmen erwarteten einen Beschäftigungszuwachs, nur 26 % einen Rückgang.

Zugleich haben die Unternehmen weiterhin große Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Die Fachkräftelücke blieb auch im ersten Quartal 2023 groß; die sogenannte Stellenüberhangquote, die den Anteil an offenen Stellen beschreibt, für die es keine passend qualifizierten Arbeitslosen gibt, zeigt keine Entspannung an (Fachkräftereport 2023). Dies gilt zum Beispiel im besonders starken Maß für Berufe im Bereich der Rohstoffgewinnung, Produktion und Fertigung. Die Vakanzdauer wird immer länger. Mit durchschnittlich 149 Tagen mussten die Unternehmen laut Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Juli 2023 zwar nicht mehr ganz so lange auf eine erfolgreiche Besetzung warten wie noch zum Jahreswechsel. Der langfristige Trend zeigt gleichwohl nach oben.

Was ist absehbar?

Kurzfristig sind die Aussichten konjunkturell eingetrübt. Vor dem Hintergrund einer immer deutlicheren Standortschwäche im Verbund mit sichtbaren Spannungen in den internationalen Beziehungen darf verstärkt die Frage gestellt werden, ob und welche Konsequenzen sich für die Beschäftigungsperspektiven in Deutschland durch eine potenzielle Neuordnung von globalen Wertschöpfungsnetzwerken ergeben könnten. Gleichwohl dürfte aus Sicht der Betriebe mittel- und langfristig der hiesige Arbeitsmarkt aber vor allem durch das Zusammenfallen von digitaler Transformation, den Herausforderungen der Dekarbonisierung und dem demografischen Wandel angespannt bleiben.

Der Weg zu einer Wohlstand sichernden CO2-freien Wirtschaft wird nur über eine zunehmende Digitalisierung gelingen. Diese schreitet zwar voran, aber vielerorts langsamer als erwünscht. Ein zentraler Grund hierfür ist das Fehlen von Fachkräften mit den Kompetenzen, die für die Entwicklung und Implementierung digitaler Technologien sowie für deren effektive und effiziente Nutzung erforderlich sind. Auf mittlere bis lange Sicht werden sich die Fachkräfteengpässe noch verschärfen.

Für eine solche Prognose reicht schon ein Blick auf die Größe der hierzulande lebenden Alterskohorte der 15- bis 24-Jährigen. Sie ist nämlich mit 8,4 Millionen Personen (Stand 2020) um fast 500.000 Menschen kleiner als die Gruppe der heute 55- bis 64-jährigen Erwerbstätigen, die voraussichtlich in der kommenden Dekade nach und nach den Arbeitsmarkt altersbedingt verlassen wird. Das jährliche Neuangebot an MINT-Facharbeitern wird daher zum Beispiel in den kommenden fünf Jahren voraussichtlich nur etwa die Hälfte des Ersatzbedarfs abdecken.

Die Unternehmen werden die digitale Transformation und die Herausforderung Dekarbonisierung mit ihren alternden Belegschaften und damit mit den Beschäftigten bewältigen müssen, die bereits einen größeren Teil ihre Erwerbsbiografie absolviert haben und deren bewährten Arbeitsroutinen auf den Prüfstand geraten. Die Hoffnung, adäquat qualifizierte Beschäftigte am externen Arbeitsmarkt rekrutieren zu können, wird für viele, insbesondere für mittelständische Betriebe, vergeblich sein.

Damit gehen zwei Herausforderungen einher. Lernfähigkeit und Lernbereitschaft sind zwar bei älteren Beschäftigten nicht per se geringer ausgeprägt als bei jüngeren, allerdings ist die Heterogenität in den älteren Jahrgängen bei beiden Merkmalen aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen während langjähriger Erwerbsbiografien größer. Personalentwicklungsmaßnahmen müssen diese Heterogenität im Auge behalten. Zweitens können durch Veränderungsprozesse Status, Stellung und Ansprüche von Beschäftigten mit einer längeren Betriebszugehörigkeit in Frage gestellt werden. Dies birgt Konfliktpotenzial und kann die Veränderungsbereitschaft reduzieren, insbesondere in Unternehmen mit (alters)heterogenen Belegschaften.

Unternehmen müssen sich schließlich darauf einstellen, dass sich durch den verschärften Wettbewerb um Fachkräfte die Lohn- und damit die Arbeitskosten erhöhen dürften. Ohne rentenpolitische Reformen wird die sich verschlechternde Beitragszahler-/Leistungsempfänger-Relation direkt oder indirekt zu zusätzlichen Kostenbelastungen führen. Wo aber die Löhne knappheitsbedingt steigen werden, wird sich so mancher die Frage stellen, ob das gewünschte individuelle Wohlstandsniveau nicht mit einer kürzeren Arbeitszeit realisiert werden kann. Arbeitszeit-/Freizeitkalküle auf individueller Ebene können zu einer Verschärfung der Arbeitskräfteengpässe auf gesamtwirtschaftlicher Ebene beitragen.

Was muss auf überbetrieblicher Ebene, was auf betrieblicher Ebene getan werden?

Um den demografiebedingt drohenden Rückgang des Arbeitsvolumens abzumildern, ist es erforderlich, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu gewinnen und die noch vorhandenen inländischen Erwerbspotenziale zu mobilisieren. Die neuen Regelungen im Zuwanderungsrecht sind mit Blick auf Ersteres ein Schritt in die richtige Richtung. Ob sie am Ende zum Ziel führen, ist nicht nur, aber auch eine Frage, wie sie in der täglichen Praxis umgesetzt werden und ob sie funktionieren. An Letzterem bestehen derzeit durchaus Zweifel.

Inländische Erwerbspotenziale bestehen vor allem noch bei Teilzeitbeschäftigten, insbesondere Frauen. Die Ausweitung ihrer Wochenarbeitszeiten setzt voraus, dass sich das Mehr an Arbeit auch auszahlt und die Kinderbetreuungsinfrastruktur im ausreichenden Maße ausgebaut ist. Beides sind politische Dauerbaustellen. Eine familien- und lebensphasenorientierte Personalpolitik kann eine ausgewogene Balance von betrieblichen Anforderungen und den Möglichkeiten schaffen, familiären Verpflichtungen nachzukommen. Jede dadurch gewonnene Arbeitsstunde ist ein Beitrag zur betrieblichen Fachkräftesicherung. Betriebliches Engagement in der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist allerdings nicht in der Lage, eine unzureichend ausgebaute Kinderbetreuungsinfrastruktur zu kompensieren.

Die Erwerbsbeteiligung rentennaher Jahrgänge ist in den letzten Jahren gestiegen und verdient aus zwei Gründen erneute Aufmerksamkeit. Zum einen besteht gerade in Zeiten des Umbruchs das Risiko, dass arbeitsmarkt- und sozialpolitisch motiviert Brücken in den (Vor-)Ruhestand gebaut werden. Was aus der Perspektive eines einzelnen Unternehmens und der betroffenen Beschäftigten sinnvoll und attraktiv scheinen mag, führt aus gesamtwirtschaftlicher Sicht in die Sackgasse. Zum anderen hat die Politik mit dem Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen bei vorzeitigem Rentenbezug gerade erst einen Anreiz gesetzt, das Arbeitsangebot in rentennahen Jahrgängen zu reduzieren. Betriebe haben es gleichwohl in der Hand, durch eine frühzeitige Ansprache ihrer älteren Beschäftigten für eine Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit bis und jenseits ihres gesetzlichen Renteneintrittsalters zu werben.

Dazu zählt auch die Klärung der betrieblichen Voraussetzungen, unter den die Beschäftigten hierzu bereit sind. Neben Maßnahmen zur Stabilisierung des Arbeitsvolumens rücken damit auch Maßnahmen in den Blickpunkt, die den Einsatz eines vorhandenen Arbeitsvolumens effizienter machen. Die Betriebe stehen mit ihren Beschäftigten in der Pflicht, sich rechtzeitig über Veränderungen bei beruflichen Anforderungen und geeignete Qualifizierungsmaßnahmen ins Benehmen zu setzen. Der Staat steht wiederum vor allem bei der Verbesserung der schulischen Bildung und der Reduzierung der Schulabbrecherquoten in der Verantwortung. Gleiches gilt auch für die Schaffung von gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die Möglichkeiten zur zeitlichen und räumlichen Flexibilisierung auf betrieblicher Ebene ausweiten – Stichwort: Reform des Arbeitszeitgesetzes. Unternehmen müssen diese dann, wo es die betrieblichen Umstände erlauben, aber auch umsetzen.

Deutscher Markt für Zeitarbeit wächst um mehr als 9 %, getrieben von hohem Personalbedarf und Lohneffekten

Nach Angaben des Marktforschungsunternehmen Lünendonk wuchs der Markt für Zeitarbeit in Deutschland 2022 um 9,3 % auf 33,9 Milliarden Euro. Das ist die stärkste reguläre Zunahme seit 2014. Wachstumstreiber sind der hohe Personalbedarf der deutschen Wirtschaft sowie steigende Preise und Löhne. Treiber für das Marktwachstum ist der hohe Personalbedarf, insbesondere von Logistikunternehmen und der Automobilbranche. Zudem sind qualifizierte Fachkräfte besonders gefragt. Zeitarbeits-Anbieter, die hauptsächlich Personen mit Ausbildung oder Studium überlassen, wachsen mit 16,5 % deutlich stärker als Unternehmen mit überwiegend niedrig qualifizierten Zeitarbeitskräften (+4,6 %).

Ansprechpartner

Dr. Oliver Stettes 
Leiter Themencluster Arbeitswelt und Tarifpolitik 
Institut der deutschen Wirtschaft 
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