„Die Bedeutung Indiens für die deutsche Wirtschaft wird sich weiter erhöhen“

Mike D. Batra, Mitbegründer & Geschäftsführer der auf Indien spezialisierten Unternehmensberatung Dr. Wamser + Batra GmbH in Bochum / New Delhi

Welche Rolle spielt Indien aktuell für die deutsche Wirtschaft, und wie schätzen Sie die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den kommenden Jahren ein? Wie wird sich sein Stellenwert für die deutsche Wirtschaft, auch im Vergleich zu anderen Regionen der Welt, verändern?

Mike D. Batra: Indien ist gegenwärtig die am schnellsten wachsende bedeutende Volkswirtschaft weltweit. Es wird erwartet, dass dieses Wachstum in den kommenden Jahren weiterhin robust bleibt, mit einer Prognose von etwa 6 bis 7 Prozent. Zudem sind nennenswerte Fortschritte in der Infrastruktur sowie beim Abbau bürokratischer Hürden zu verzeichnen, die durch die fortschreitende Digitalisierung unterstützt werden. Hinzu kommen geopolitische Faktoren sowie eine vorher selten dagewesene politische Stabilität des Landes: Premierminister Modi wurde bei den diesjährigen Parlamentswahlen in seinem Amt bestätigt und hat seine dritte Amtszeit angetreten.

Die Bedeutung Indiens für die deutsche Wirtschaft wird sich in den nächsten Jahren weiter erhöhen. Das liegt vor allem daran, dass Indien in vielen verschiedenen Bereichen interessante Möglichkeiten für die deutsche Wirtschaft bietet – als neuer Absatzmarkt, im Einkauf von Vorprodukten, durch lokale Produktion, als Pool für das Sourcing von Fachkräften, durch die Bereitstellung von IT-Kapazitäten und anderes mehr.

Welche Chancen und Risiken birgt die Einbindung Indiens in Staatenbünde wie BRICS und ASEAN für deutsche Unternehmen, die in Indien Fuß fassen wollen?

Mike D. Batra: Innerhalb der BRICS ist Indien aktuell und für die nächsten Jahre wahrscheinlich der interessanteste Wachstumsmarkt für deutsche Unternehmen. Die Mitgliedschaft Indiens im BRICS-Verbund ist dafür weniger wichtig, da es bisher noch kein Freihandelsabkommen innerhalb des Verbunds gibt. Interessanter für die Perspektive von in Indien tätigen deutschen Unternehmen sind die regionalen Freihandelsabkommen, wie Indien es zum Beispiel mit dem ASEAN-Staatenbündnis geschlossen hat. Diese Abkommen ermöglichen es nämlich, eine Produktion in Indien als Hub für andere Märkte in Südostasien zu nutzen. Das geplante Freihandelsabkommen Indiens mit der EU wird momentan wieder aktiv verhandelt. Eine solche Vereinbarung würde natürlich noch größere Möglichkeiten für deutsche Unternehmen eröffnen.

Indien hat eine bedeutende Stahlindustrie mit sehr großen Stahlerzeugern und auch Verarbeitern, beispielsweise Schmieden. Welche Standortbedingungen bietet Indien der Stahlindustrie?

Mike D. Batra: Die vorteilhaften Standortbedingungen der indischen Stahlindustrie, zum Beispiel relativ geringe Energie- und Lohnkosten, gelten auch für die Verarbeiter und für deutsche Zulieferer, die in Indien eine Niederlassung planen. Zudem gibt es für insgesamt 14 Sektoren, darunter auch für die Stahl- und Automobilzulieferindustrie, seit dem Jahr 2020 ein gezieltes Förderprogramm der indischen Regierung. Die Fördermöglichkeiten im Rahmen des sogenannten Production-Linked Incentive (PLI) Scheme sind abrufbar für Unternehmen, die in diesen Bereichen eine lokale Produktion aufbauen.

Die hohe Verfügbarkeit von Arbeitskräften ist ein weiterer positiver Standortfaktor. Jeden Monat strömt rund eine Million junge, motivierte und Englisch sprechende Inder neu auf den Arbeitsmarkt. Den UN zufolge ist die Hälfte der indischen Bevölkerung 2024 jünger als 28,6 Jahre. Diesen riesigen Talentpool kann man sowohl für die Aktivitäten vor Ort wie auch für das Stammhaus in Deutschland nutzen. Zwar müssen oft insbesondere Facharbeiter in der Produktion durch die Unternehmen selbst ausgebildet werden, da die indische Ausbildung traditionell eher theoretisch ausgerichtet ist. Wenn dies aber gelingt und sich die Mitarbeiter in der indischen Tochtergesellschaft etablieren, dann ist eine mögliche Beschäftigung in Deutschland für beide Seiten eine interessante Perspektive und fördert umso mehr die Bindung an das Unternehmen.

Als Stahl- und Metallverarbeiter produzieren unsere Betriebe Vorleistungsgüter für viele große Kundenindustrien wie den Fahrzeugbau, den Maschinen- und Anlagenbau und die Elektroindustrie. Welche Chancen haben unsere mittelständischen Betriebe auf den indischen Märkten?

Mike D. Batra: Die drei genannten Industrien verzeichnen in Indien ein bemerkenswertes Wachstum, was sich in einer Vielzahl von Möglichkeiten niederschlägt. Die überwiegende Mehrheit der über 750 Kunden, die wir in den vergangenen rund zwanzig Jahren in Indien betreut haben, stammt aus diesen spezifischen Sektoren. Viele dieser Unternehmen begannen als kleine Vertriebs- und Servicegesellschaften und haben sich im Laufe der Zeit schrittweise der lokalen Wertschöpfung angenähert.

Wichtig ist, dass sich ein Unternehmen vor dem Markteintritt eingehend damit beschäftigt, welches Produkt mit welchen Funktionen und vor allem zu welchem Preis es in Indien anbieten will beziehungsweise kann. Da die durchschnittlichen Importzölle relativ hoch sind, muss man dem indischen Kunden einen echten Mehrwert für den hohen Preis bieten können. Wichtig ist auch zu berücksichtigen, dass mit importierten, hochpreisigen Produkten meist irgendwann eine Art „gläserne Decke“ erreicht wird und der Umsatz stagniert. Vor allem mit lokaler Montage oder Produktion wird es möglich, das große Potenzial richtig auszunutzen.

Manche unserer Mitgliedsunternehmen, zum Beispiel aus dem Bereich Blechverarbeitung, erwägen den Aufbau einer eigenen Fertigung in Indien. Was muss man beim Markteintritt in Indien besonders beachten? Was sind die Risiken?

Mike D. Batra: Der Aufbau einer Produktionsstätte in Asien ist nicht nur, aber vor allem in Indien aufgrund der Bürokratie sehr komplex und birgt viele Fallstricke. Zunächst sollten entsprechende Kapazitäten im Stammhaus vorhanden sein, die sich um das Projekt von Deutschland aus und durch regelmäßige Besuche vor Ort kümmern. Indien ist sehr kommunikationsintensiv, und viel informelle wie auch formelle Kommunikation findet spontan telefonisch oder über Messangerdienste wie WhatsApp statt – auch nach Feierabend oder an Wochenenden.

Ein weiterer Faktor ist die richtige Standortwahl. Diese sollte objektiv und nach festgelegten Kriterien und nicht nach persönlichen Präferenzen erfolgen. Der darauffolgende Grundstückskauf muss entsprechend gründlich geprüft und fachlich begleitet werden. Unsere Erfahrung aus vielen Projekten hat gezeigt, dass zudem ein Modell mit einem Indien-erfahrenen Interim-Manager vor Ort vorteilhaft ist. Dann kann der Aufbau einer Montage oder Produktion schneller und mit weniger Risiko durchgeführt werden.

Wie unterscheidet sich die Geschäftsmentalität in Indien von der in Deutschland? Welche „Fettnäpfchen“ gilt es zu vermeiden?

Mike D. Batra: Im interkulturellen Kontext Indiens gibt es so gut wie keine „Fettnäpfchen“, die Geschäfte verhindern würden. Es ist eher so, dass deutsche Unternehmen oft zu vorsichtig agieren, da sie interkulturell nichts falsch machen wollen. Was zum Beispiel sehr häufig passiert, ist eine zu schnelle geschäftliche und auch emotionale Bindung von deutschen Unternehmen an lokale Partner, ohne vorherige gründliche Prüfung deren Hintergrunds. Dies gilt auch für den oder die ersten Mitarbeiter. Oft wird hier aus dem Netzwerk, beispielsweise vom bisherigen Handelsvertreter, rekrutiert und eingestellt, ohne wirklich systematisch im Markt zu suchen.

Bei einer Partnerschaft, insbesondere bei Joint Ventures, werden anfänglich häufig von deutscher Seite aus falsch verstandener interkultureller Vorsicht wichtige Themen nicht angesprochen. Dabei kann und sollte man in Indien sehr direkt – und auf Englisch – mit den Geschäftspartnern kommunizieren.

Weiterhin ist es ratsam, in Indien eigene persönliche Beziehungen im relevanten Markt herzustellen und auch eigene informelle Informationskanäle zu etablieren, um Informationen der Märkte, der Geschäftspartner oder der eigenen Mitarbeiter verifizieren zu können.

Indien ist in seiner Größe, Struktur und Vielfalt dem europäischen Kontinent sehr ähnlich. Kann ein deutsches Unternehmen auf dem Absatzmarkt Indien ähnlich vorgehen wie im multikulturellen Europa? Welche Strategien versprechen Erfolg?

Mike D. Batra: Indien ist ein Subkontinent mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen und durchaus in geografischer Ausdehnung und Vielfalt der Kulturen und Sprachen mit Europa zu vergleichen. Ähnlich wie in Europa existiert seit der großen Steuerreform (Goods and Services Tax) aus dem 2017 ein einheitlicher Binnenmarkt.

Trotz der Größe des Landes gibt es bei genauerer Betrachtung des Potenzials für die meisten deutschen Unternehmen im B2B-Bereich oft vertrieblich nur drei relevante Regionen. Diese sind der Großraum Delhi im Norden, der Korridor Mumbai-Pune im Westen sowie das Dreieck Chennai-Bengaluru-Hyderabad im Süden. Üblicherweise fängt man mit der lokalen Präsenz oder mit einer Vertriebspartnerschaft in einer dieser Regionen an. Von hier aus können die anderen Regionen zunächst durch Reisen abgedeckt werden, mittelfristig kommen dann regionale Vertriebsmitarbeiter hinzu. Im B2C-Bereich entwickeln sich neben den Metropolen mit steigender Kaufkraft auch die mittelgroßen Städte Indiens immer mehr zu wichtigen Absatzmärkten. Grundsätzlich sind dabei Geduld, Ausdauer und Kontrolle sicherlich die wichtigsten Erfolgsgaranten.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Foto von Mike D. Batra
Fotocredit: Dr. Wamser + Batra GmbH