Die Gefahr besteht, dass Unternehmen in die Insolvenz getrieben werden

Dr. Klaus-Heiner Röhl, Senior Economist beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.

Mit der Taxonomie will die EU ihre Nachhaltigkeitsziele mit einem großen Hebel erreichen. Nachhaltige Unternehmen sollen sich auf dem Kapitalmarkt günstiger finanzieren können als andere. Ist das eine wirksame Maßnahme, um politische Ziele zu erreichen? Oder werden weniger nachhaltige Unternehmen einfach ausweichen und andere Wege gehen?

Dr. Klaus-Heiner Röhl: Die EU-Taxonomie stellt eine sehr weitreichende bankenregulatorische Maßnahme dar, mit der die Europäische Union ihre Nachhaltigkeits- und Klimaziele („Green Deal“) über den Hebel der Finanzierung von Unternehmen erreichen will. Für diese Taxonomie werden neue Inhalte zur Unternehmensberichterstattung festgelegt: Es ist künftig der Anteil des Umsatzes auszuweisen, der „nachhaltig“ ist und damit die Taxonomie-Kriterien erfüllt. Dies erfordert eine umfassende Bewertung des Produktportfolios, aber oft auch der Tätigkeit der Kunden („Wo und wie wird das Ventil, das ich produziere, verwendet?“). Gerade mittelständische Zulieferbetriebe kann dies vor große Probleme stellen, da sie die Kunden ihrer Produkte – etwa Maschinenkomponenten – in „gut“ und „böse“ einteilen müssen, um diesen Anteil zu bestimmen. Die Kunden werden aber wiederum selbst zu bestimmten Anteilen in Taxonomie-gerechten und Taxonomie-problematischen Bereichen tätig sein. Die Ergebnisse dieser Bewertungen sind zudem auch umfassend nachzuweisen. Auf die Unternehmen kommen daher hoch komplexe neue Auditierungsprozesse zu, die für mittelständische Unternehmen sehr teuer werden könnten.

Von der Taxonomie wird auch das Geschäftsmodell der Banken und Finanzdienstleister in der EU maßgeblich beeinflusst. Welche Folgen wird das für die Finanzdienstleistungsbranche haben?

Röhl: Die Finanzbranche ist bereits dabei, sich auf die neuen Regelungen einzustellen. Die Banken verlangen entsprechende Taxonomie-Nachweise von ihren Unternehmenskunden und drohen teilweise mit einer Kappung der Geschäftsverbindung oder haben diese schon in die Wege geleitet. Hier liegt die größte Gefahr der Taxonomie für die Wirtschaft in Deutschland und der EU: Dass die Finanzierung für nicht begünstigte Unternehmen und Branchen nicht nur teurer wird, sondern dass diese ganz ausgeschlossen und letztlich in die Insolvenz getrieben werden. Es bleibt abzuwarten, ob manche Institute die Regeln weniger streng auslegen und betroffenen Unternehmen weiterhin Finanzierungen anbieten.

Es zeichnet sich ab, dass die Taxonomie-Kriterien auch bei den staatlichen Förderregeln zur Anwendung kommen sollen. Falls Investoren aus dem EU-Ausland davon ausgenommen sein sollten, benachteiligt das Unternehmen mit Sitz in der EU. Wenn die Regeln aber für alle Förderantragsteller gelten, müssten sich EU-Ausländer der Brüsseler Taxonomie unterwerfen. Was denken Sie: Worauf wird es hinauslaufen?

Röhl: Anders als das EU-Lieferkettengesetz ist die Taxonomie nicht von vornherein auf eine globale Durchsetzung hin angelegt. Es ist aber trotzdem davon auszugehen, dass auch ausländische Unternehmen sich an die Taxonomie-Bestimmungen halten müssen, wenn sie in der EU dauerhaft Geschäfte machen wollen. Damit wird die Taxonomie allerdings zu einem nicht-tarifären Handelshemmnis, das auf seine WTO-Konformität hin überprüft werden muss, sofern EU-Handelspartner dies verlangen. Ohne eine Einbeziehung von Unternehmen mit Sitz im EU-Ausland droht hingegen eine Abwanderung betroffener Branchen.

Die EU-Kommission definiert sehr streng, welche Branchen als nachhaltig gelten sollen. Traditionelle Industrien wie zum Beispiel die Stahlverarbeitung und der Maschinenbau qualifizieren sich wohl nicht. Ohne sie kann es aber keine Anlagen zur Produktion grüner Energien geben. Ist dieser enge Ansatz richtig?

Röhl: Die EU-Definition nachhaltiger Branchen für die Taxonomie ist auch deshalb hochproblematisch, da sie die Arbeitsteiligkeit moderner Volkswirtschaften weitgehend ignoriert. Industriebranchen stehen bereits durch Lieferprobleme infolge der Covid19-Krise und nun durch die Folgen der Energieverknappung und -verteuerung aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stark unter Druck. Eine Deindustrialisierung Europas mit einer Verlagerung der Produktion in andere Weltregionen würde jedoch durch wahrscheinlich umweltschädlichere Produktionsverfahren und zusätzliche Transporte die Erreichung der EU-Nachhaltigkeitsziele auf globaler Ebene gerade konterkarieren statt sie zu befördern.

Auch die Verteidigungsindustrie ist bislang in der Taxonomie als nicht nachhaltig eingestuft, obwohl der Ukrainekrieg die hohe Relevanz der Verteidigungsfähigkeit demokratischer Staaten unterstreicht und die EU gleichzeitig die Europäische Verteidigungsunion stärken will, um die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten, die im Ukrainekrieg wieder deutlich wurde, zu reduzieren. Zwar wurde die pauschale Negativbeurteilung des ersten Taxonomieentwurfs abgemildert; eine positive Einstufung erfolgte jedoch nicht, so dass viele Kreditinstitute Waffenproduzenten derzeit sanktionieren. Hier scheinen unterschiedliche Strömungen in der EU-Kommission gegeneinander zu arbeiten – oder es gilt schlicht das alte Sprichwort: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“: Die Verteidigungsfähigkeit ist zwar gut und notwendig, aber die dafür notwendigen Waffen sind schlecht.

Große, kapitalmarktorientierte Unternehmen werden die Folgen der Taxonomie wahrscheinlich sofort spüren. Aber was ist mit dem Mittelstand? Hier ist ja oft noch der klassische Kredit der Hausbank das Finanzierungsmittel.

Röhl: Auch der Mittelstand ist von der Taxonomie stark betroffen, da die Finanzbranche bei der Umsetzung der Regelungen allenfalls Kleinbetriebe und kleine Mittelständler ausnehmen wird, aber nicht den industriellen Mittelstand, der oft die KMU-Kriterien der EU (unter 250 Beschäftigte, maximal 50 Millionen Euro Umsatz) überschreitet. Das Beispiel der Verteidigungsindustrie zeigt sogar, dass der Mittelstand besonders betroffen ist: Spezialisierte Mittelständler im Sicherheits- und Verteidigungsbereich werden in der Taxonomie nicht als nachhaltig eingestuft, während Konzerne, bei denen weniger als 20 Prozent des Umsatzes auf den Verteidigungssektor entfallen, zumindest theoretisch aufgrund des Übergewichts anderer Zweige die Taxonomie-Kriterien einhalten können. Damit verletzt die Taxonomie das in der Europäischen Mittelstandspolitik festgelegte „Think Small First“-Prinzip.

Künftig werden auch nicht berichtspflichtige Unternehmen mittelbar von der Taxonomie berührt sein, wenn sie zum Beispiel von berichtspflichtigen Geschäftspartnern oder Banken aufgefordert werden, relevante Nachhaltigkeitsinformationen zur Verfügung zu stellen. Was sollte ein mittelständischer Industriebetrieb mit vielleicht 450 Mitarbeitenden aus der Stahl- und Metallverarbeitung tun? Kann er sich zurücklehnen, weil ihn das Thema zumindest vorerst nicht betrifft, oder sollte er sich vorauseilend damit beschäftigen?

Röhl: Wie bei den Regelungen des Europäischen Lieferkettengesetzes wird es in der Taxonomie voraussichtlich nicht gelingen, formal bestehende Ausnahmen für kleine und mittlere Unternehmen praxistauglich umzusetzen. Auch der Mittelstand muss sich daher frühzeitig mit der Taxonomie befassen, die eigene Produktion auf die Kriterien hin bewerten und beispielsweise mit der Hausbank abklären, ob diese die Geschäftsbeziehung auch dann beibehalten wird, wenn das Unternehmen in der Taxonomie als nicht (ausreichend) nachhaltig eingestuft werden sollte. Im Zweifelsfall sollten sich mittelständische Industriebetriebe bereits nach einem Bankpartner umsehen, der bereit ist, auch zu „nicht nachhaltigen“ Unternehmen Kundenbeziehungen zu unterhalten – wenn auch zu höheren Finanzierungskosten als bislang gewohnt.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

 

ZUR PERSON

Dr. Klaus-Heiner Röhl ist Senior Economist im Institut der deutschen Wirtschaft (iw). Er ist im Hauptstadtbüro Berlin tätig und befasst sich schwerpunktmäßig mit der Mittelstandspolitik sowie Fragen des Strukturwandels.