„Grüner Stahl“ mit Wasserstoff: Realistisch oder illusorisch?
Der Begriff des „grünen“ Stahls ist in Deutschland nicht einheitlich definiert. In der Praxis werden alle möglichen Varianten mehr oder weniger CO2-reduzierter Stähle als „grün“, also als ökologisch nachhaltig vermarktet. Dabei werden oft rein bilanzielle Methoden zur Reduzierung des ausgewiesenen Carbon Footprints angewendet. Auch auf internationaler Ebene wird heftig darum gerungen, ab wann ein Stahl grün ist. Die zentrale Frage dabei ist, ob die Einstufung vom absoluten CO2-Wert oder von relativen Bezugsgrößen wie der Erzeugungsroute oder Vergleichsgrößen abhängt.
Häufig wird grüner Stahl mit der wasserstoffbasierten Stahlerzeugung gleichgesetzt. Basis dafür sind Direktreduktionsanlagen, in denen Eisenschwamm hergestellt wird. Dieser wird anschließend zusammen mit Schrott in einem Elektrolichtbogenofen eingeschmolzen (DRI-EAF-Verfahren). Dies ist ein etabliertes Verfahren, bei dem bisher Erdgas als Reduktionsmittel eingesetzt wird. Ersetzt man Erdgas durch Wasserstoff und kommen sowohl bei der Wasserstofferzeugung als auch im Elektrostahlwerk erneuerbare Energien zum Einsatz, wird der CO2-Ausstoß weitgehend eliminiert. Gänzlich CO2-frei wäre der Walzstahl als Endprodukt aber nur, wenn auch Vorprodukte wie Legierungen und die anschließenden Walz- und Wärmebehandlungsstufen emissionsfrei sind.
Die Hochofenroute steht vor einer Riesen-Herausforderung
Der von politischen Vorgaben ausgehende Druck für eine Verfahrensumstellung trifft vor allem Stahlhersteller, die heute mit dem konventionellen Hochofenprozess arbeiten. Dies trifft 70 % der deutschen Stahlerzeugung. Dieser Anteil liegt klar über dem EU-Mittel von 55 %. China kommt heute auf etwa 90 %, am unteren Ende der Weltskala liegen die Türkei mit 28 % und die USA mit knapp 32 %.
Der CO2-Ausstoß im Hochofenprozess liegt nach Angaben des Weltstahlverbandes im globalen Mittel bei 2,32 Tonnen je Tonne Stahl, während die Elektrostahlroute auf Schrottbasis nur auf durchschnittlich 0,7 und die Direktreduktionsroute mit Erdgas auf 1,43 Tonnen CO2 pro Tonne Stahl kommen. Um zu den ambitionierten CO2-Minderungszielen der EU beizutragen, muss die Hochofenroute umgestellt werden. Dies wird mit einem monetären Hebel umgesetzt: Im Zuge der CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism)-Einführung wird die bisher weitgehend kostenfreie Zuteilung von CO2-Emissionszertifikaten ab 2026 schrittweise gesenkt und bis 2034 vollständig abgeschafft. Daraus resultieren für Hersteller ohne Dekarbonisierung hohe CO2-Kosten, die nach heutigen Schätzungen in der Endstufe durchaus etwa 300 Euro pro Tonne Stahl erreichen können.
Deutschland setzt auf Wasserstoff
Der Weg über die Direktreduktion mit grünem Wasserstoff ist nicht die einzige Möglichkeit zur Dekarbonisierung der Stahlerzeugung. In Deutschland haben sich aber alle betroffenen Hersteller (Salzgitter AG, Thyssen Krupp Steel, ArcelorMittal sowie die Saarhütten mit Saarstahl und der Dillinger Hütte) auf diese Strategie festgelegt und für die erste Stufe der Umstellung Subventionszusagen über zusammen rund 7 Milliarden Euro bekommen. Dies zeigt, dass die bisherige Bundesregierung ein starker Unterstützer dieses Weges war.
Einige EU-Hersteller haben bereits damit begonnen, einen Teil ihrer Erzeugung entsprechend umzustellen. Auch gänzlich neue Player treten hervor. Der erste fossilfreie Stahl wird wahrscheinlich 2026 in Schweden auf den Markt kommen. In Deutschland dürften die ersten Direktreduktionsanlagen 2026/2027 an den Start gehen. Aber nicht alle EU-Hersteller haben sich bereits final auf die wasserstoffbasierte Direktreduktion festgelegt. Unter anderem hat ArcelorMittal die Entscheidung für die deutschen (wie auch für andere) Standorte zuletzt auf Eis gelegt. Immer klarer wird auch, dass die neuen Direktreduktionsanlagen in Deutschland zunächst ganz überwiegend mit Erdgas betrieben werden. Die schrittweise Umstellung auf Wasserstoff soll später erfolgen.
Grüner Wasserstoff als Nadelöhr
Der Grund: Es ist nicht klar, wann, in welchen Mengen und zu welchen Kosten grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen wird. Dies hängt eng zusammen mit der großen Frage der künftigen Energieversorgung und -kosten, die aufgrund der vielen politischen Einflüsse äußerst schwer planbar sind. Denn um grünen Wasserstoff zu erzeugen, benötigt man große Mengen an erneuerbaren Energien. Nach Aussage des europäischen Stahlverbandes Eurofer würde sich bei Umsetzung aller Projekte der Stromverbrauch der Stahlindustrie bis 2030 verdoppeln, wobei mehr als die Hälfte des Verbrauchs auf die Wasserstofferzeugung entfällt.
Der inländische Wasserstoffhochlauf stockt unverkennbar. Die deutsche „Nationale Wasserstoffstrategie“ sieht bis 2030 eine installierte Elektrolyseleistung von 10 Gigawatt vor. Angesichts eines derzeitigen Wertes von etwa 0,15 Gigawatt halten Experten das kaum für erreichbar. Nur wenige Elektrolyseurprojekte sind bisher konkret auf den Weg gebracht worden. Nach den Plänen der Bundesregierung soll Deutschland im Jahr 2030 seinen Wasserstoffbedarf zu 50 bis 70 Prozent durch Importe decken. Eine bedarfsdeckende inländische Versorgung sei weder wirtschaftlich sinnvoll noch den energiewendebedingten Transformationsprozessen insgesamt dienlich, heißt es in der Strategie. Bei der Umsetzung hapert es allerdings. Entsprechende Lieferzusagen von Partnerländern gehen nur zögerlich ein. Nicht zuletzt, weil Deutschland sehr hohe Anforderungen stellt. Zudem fehlt es an Infrastruktur, und immer mehr Stimmen stellen in Frage, ob der Transport von grünem Wasserstoff über weite Distanzen überhaupt sinnvoll ist.
Und die Kosten?
Die Kosten des grünen Wasserstoffs in fünf oder zehn Jahren sind kaum seriös kalkulierbar. Schätzungen weisen eine hohe Spanne auf. Nicht zuletzt aufgrund der deutlich gestiegenen Energiepreise erweisen sich frühere Kostenprognosen als zu optimistisch. Aktuelle Wasserstoffpreise werden auf 5 bis 10 Euro je Kilogramm geschätzt, während für eine wirtschaftlich tragfähige Produktion ein Preis von etwa 2 bis 3 Euro je Kilogramm angesetzt wird. Der Informationsdienstleister Argus bezifferte die Herstellkosten von Stahl auf Basis von grünem Wasserstoff im Januar 2025 auf 1.074 Euro je Tonne – mehr als doppelt so viel wie die Kosten der traditionellen Route. Zwar werden sich die Relationen im Zuge der steigenden CO2-Bepreisung bessern, aber ein tragfähiger Business Case lässt sich trotzdem noch nicht unbedingt erkennen. Dass vor diesem Hintergrund und der noch unklaren Zahlungsbereitschaft potenzieller Kunden so mancher Stahlhersteller zögert, ist nachvollziehbar.
Längst nicht überall auf der Welt wird die wasserstoffbasierte Direktreduktion als Königsweg zur Dekarbonisierung der Stahlerzeugung angesehen. Erst recht nicht auf kurze oder mittlere Sicht. Am Weltmarkt gibt es zwar einige (Pilot-)Projekte, aber keine breitere Bewegung. Zudem werden die Bedingungen für eine international wettbewerbsfähige Erzeugung von grünem Stahl auf Wasserstoffbasis in Deutschland vielfach nicht positiv gesehen. Länder mit niedrigeren Energiepreisen, einer sicheren künftigen Stromversorgung und einem hohen Anteil an erneuerbarer Energie haben klare Vorteile.
CO2-Reduktion ja, aber nicht unbedingt mit grünem Wasserstoff
Nicht CO2-freier, sondern in unterschiedlichem Maße CO2-reduzierter Stahl wird die Hochlaufphase ab 2026 prägen. Immerhin führen schon rein erdgasbetriebene Direktreduktionsanlagen zu einer CO2-Reduktion um etwa 50 %. Wann in deutschen Direktreduktionsanlagen mehr Wasserstoff als Erdgas eingesetzt wird und wie grün dann der Wasserstoff anfangs sein wird, ist heute nicht klar. Es ist gut möglich, dass noch andere Farben von Wasserstoff an Gewicht gewinnen, auch mit Blick auf die öffentliche Förderung. Genannt werden kohlenstoffarmer blauer (aus Erdgas in Verbindung mit CCS), türkiser (durch Methanpyrolyse erzeugt) und oranger (auf Basis von Abfall- und Reststoffen erzeugt) Wasserstoff.
Ob der in Deutschland eingeschlagene Weg bei der Umstellung weiterer Hochöfen beibehalten und sich mittelfristig auch international durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Auch politische Einflüsse und das Verhalten der Kunden werden dabei eine Rolle spielen. Alternativen sind Elektrostahlwerke, die mit Strom aus erneuerbarer Energie, Schrott und gegebenenfalls importiertem (grünen) Eisenschwamm betrieben werden. Die Stromkosten, die Schrottverfügbarkeit und die qualitative Skala der herstellbaren Stahlgüten sind hier die entscheidenden Faktoren. Aber auch die Abscheidung und Speicherung von CO₂-Emissionen (CCU/CCS) oder gänzlich neue Technologien wie die alkalische Eisenelektrolyse könnten an Bedeutung gewinnen.
Stahlverarbeiter sollten mit eigenen CO2-Minderungs-Zielen und Zusagen gegenüber Kunden vorsichtig sein, sowohl auf der Zeitachse als auch bei den jeweiligen Reduzierungsstufen. Unternehmen müssen eigenes Know-How zu der Thematik aufbauen. Nicht nur beim Ausmaß und dem Tempo der CO2-Reduktion, sondern auch bei den Herstellkosten von konventionellem und „grünem“ Stahl wird die Spanne zwischen einzelnen Herstellern im Vergleich zu heute erheblich größer werden. Klar ist nur eines: Stahl wird in der EU spätestens ab 2028 deutlich teurer, sei es wegen schnell steigender CO2-Kosten oder wegen hoher Kosten der Dekarbonisierung.
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