Potenziell besteht die Gefahr, dass ganze industrielle Wertschöpfungsketten in andere Weltregionen abwandern

Die EU-Energieminister haben den Mitgliedsstaaten ein Handlungspaket an die Hand gegeben, mittels dessen die Energiekosten kurzfristig reduziert werden könnten. Es handelt sich um Reduzierungen der staatlichen Preisbestandteile wie Steuern und Umlagen. Erwarten Sie, dass die Bundesregierung diesen Instrumentenkasten nutzen wird, um auch die Kosten für Industriebetriebe zu begrenzen?

Weber: Die Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass sie die Preissteigerungen an den Energiemärkten durch Reduzierung staatlicher Preisbestandteile reduzieren will. Insbesondere wird ins Auge gefasst, den Wegfall der EEG-Umlage vorzuziehen. Hier wird kaum zwischen Haushalten und Unternehmen differenziert werden. Dadurch gibt es eine Entlastung beim Strom insbesondere für diejenigen Unternehmen, die bislang die volle EEG-Umlage gezahlt haben.

Die energieintensiven Unternehmen, bei denen die Energiekosten einen hohen Anteil an den Herstellkosten ausmachen, profitieren jedoch häufig nicht von dieser Maßnahme, da sie bereits weitgehend von der EEG-Umlage befreit sind.

Besonders stark war der Preisanstieg im vergangenen Jahr jedoch beim Erdgas. Da sind die staatlichen Preisbestandteile deutlich geringer und dementsprechend auch die Handlungsspielräume. Hier nehme ich bislang auch keine Überlegungen wahr, die Energiesteuer oder die CO2-Bepreisung entsprechend dem Brennstoff-Energie-Handelsgesetz (BEHG) auszusetzen. Gerade letzteres erscheint wegen der klimapolitischen Ziele der neuen Bundesregierung auch unwahrscheinlich.

Innerhalb der EU gibt es Stimmen, die eine Änderung des Marktmechanismus einfordern (Stichwort: Merit Order). Wie könnte ein anderes Modell aussehen, und welche Vor- und Nachteile hätten die Alternativen für deutsche Industriebetriebe im europäischen Wettbewerb?

Weber: Eine Preisbildung für Güter am Markt auf Basis von Grenzkosten wie bei der Merit Order, also die durch die Grenzkosten der Stromerzeugung bestimmte Einsatzreihenfolgen von Kraftwerken, entspricht nach der gängigen ökonomischen Theorie einem effizienten Marktergebnis und führt auch zu optimalen Anreizen für alle Marktteilnehmer. Dieser Ansatz hat sich im Elektrizitätsmarkt bewährt, auch wenn es dabei zu starken kurzfristigen Preisschwankungen kommt – zwischen Tag und Nacht oder zwischen windreichen und windarmen Tagen. Längerfristig gibt es zudem Schwankungen, wenn sich die Preise der Brennstoffe und CO2-Zertifikate ändern.

Durch länger laufende Bezugsverträge, zum Beispiel über ein Jahr oder mehr, können sich Energieabnehmer gegen kurzfristige Preisschwankungen absichern und machen das bereits heute. Eine Begrenzung der langfristigen Preisrisiken könnte durch (staatlich verordnete oder freiwillige) längerfristige Lieferverträge zwischen Produzenten und Abnehmern erfolgen. Oder der Staat gibt Preisgarantien für Produzenten ab, so dass deren Investitionsrisiko reduziert wird – das ist in Deutschland und anderswo bei den erneuerbaren Energien lang geübte Praxis; die britische Regierung hat ähnliches für den Neubau des Kernkraftwerks Hinkley Point C gemacht.

Aber einen Verzicht auf die grenzkostenbasierte Strompreisbildung im Kurzfristmarkt halte ich für sehr problematisch. Denn dann verlieren wir ein maßgebliches Signal zur Koordination von verschiedenen Anbietern und Nachfragern. Die von manchen gewünschte Entkopplung des Strompreises vom Gaspreis ist auch nur vordergründig attraktiv. In Zeiten sinkender Gaspreise führt sie zu überhöhten Strompreisen.

Gelegentlich wird auch vorgeschlagen, dass sich die Preise an den Durchschnittskosten orientieren sollten. Das ist für Industrie- und andere Endkunden aber auch jetzt schon der Fall, nämlich dadurch, dass in der Regel ein fester Energiebezugspreis vereinbart wird.

In diesem Jahr gehen die letzten Kernkraftwerke vom deutschen Stromnetz. Werden die Kosten dann nochmals weiter steigen? Ist die Versorgung auch nach 2022 noch gesichert?
Weber: Für die Entwicklung der Endkundenpreise sind aktuell vor allem die Entwicklung des Gaspreises und des CO2-Preises entscheidend, da derzeit in vielen Stunden des Jahres Gaskraftwerke preissetzend sind. Der Ausstieg aus der Kernenergie reduziert die verfügbaren steuerbaren Kraftwerkskapazitäten, und damit müssen teurere Kraftwerke einspringen. In vielen Stunden werden die Preise aber kaum merklich ansteigen da es noch freie Kapazitäten gibt. In der Tat steigt jedoch das Risiko, dass in einzelnen Stunden (vor allem in den Abendstunden an kalten Wintertagen mit wenig Wind) die verfügbare Erzeugung nicht mehr zur Deckung der gesamten Nachfrage ausreicht. Dabei ist aber nicht nur die Situation in Deutschland entscheidend. In Frankreich sind aktuell mitten im Winter zehn Kernkraftwerksblöcke nicht verfügbar, da hier die Aufsichtsbehörde Sicherheitsbedenken geltend gemacht hat.

Perspektivisch wird Deutschland auch aus der Kohleverstromung aussteigen. Sehen wir einem weiteren Preistreiber entgegen?

Weber: Wenn sich die Erdgaspreise normalisieren, werden auch die Strompreise wieder sinken. Allerdings ist Erdgas derzeit weltweit teuer - auch für andere Importländer wie Japan-, und die aktuellen Preisnotierungen am Terminmarkt lassen erwarten, dass es erst im April 2023 zu einer Entspannung kommt. Dabei sind offensichtlich die momentanen geopolitischen Risiken ebenfalls mit eingepreist.

Auch die Kohlepreise haben weltweit angezogen, so dass wir davon ausgehen müssen, dass wir in den nächsten Jahren ähnlich wie in der Periode 2006 bis 2008 hohe und volatile Energiepreise auf den Weltmärkten sehen werden. Das wird aber für Erdgas und Kohle voraussichtlich nicht dauerhaft der Fall sein. Bei den aktuellen hohen und zukünftig gegebenenfalls noch weiter steigenden CO2-Preisen wird dann aber die Stromerzeugung aus Erdgas nicht teurer sein als die Stromerzeugung aus Kohle.
Wenn das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 erreicht werden soll, kann auch Erdgas kein relevanter Energieträger für die Prozesswärme der Industrie bleiben. Halten Sie es für realistisch, den Wärmebedarf überwiegend aus erneuerbaren Energien – sei es in Form „grünen“ Stroms oder „grünen“ Wassersstoffs“ – zu realisieren?

Weber: Hier gibt es auf jeden Fall noch erhebliche Herausforderungen zu lösen. Es gibt bereits viele technische Entwicklungen, zum Beispiel zum Betrieb von Netzen ohne die rotierenden Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke. Auch ist die Stromerzeugung aus Erneuerbaren sehr viel günstiger geworden. Dass Solarstrom in Deutschland für rund 5 ct/kWh produziert werden kann, hätte vor zehn Jahren kaum jemand gedacht. Auch bei Wasserstoff wird es zweifellos deutliche Kostensenkungen geben - aber es wird ein vergleichsweise teurer Energieträger bleiben, und die Potenziale zur Erzeugung in Deutschland sind begrenzt, nicht zuletzt da auch der Bau neuer Windenergieanlagen vielerorts in Deutschland kritisch gesehen wird.

Daher wird zukünftig sicherlich ein erheblicher Teil des grünen Wasserstoffs importiert werden - die Transportlogistik ist hier aber aufwendiger als bei Erdgas, und es gibt erhebliche Effizienzverluste in der Umwandlungskette. Kurz gesagt: Technisch ist der Umstieg lösbar und ökonomisch bei international abgestimmtem Vorgehen verkraftbar. Aber eine große Herausforderung ist bei Wasserstoff auf jeden Fall die Koordination des Umstiegs zwischen Anbietern, Netzbetreibern und Transporteuren sowie Nachfragern.

Und falls nicht: Wird sich die Industrie stärker in Regionen ansiedeln, in denen grüne Energie ausreichend verfügbar ist? Kann das unser Ziel als Industrienation sein?

Weber: Es gibt ja nicht „die Industrie“. Bei energieintensiven Grundstoffindustrien wie zum Beispiel der Aluminiumherstellung haben wir zweifellos bereits in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass neue Produktionskapazitäten nicht mehr in Deutschland entstehen, sondern in Ländern mit günstigeren Stromkosten - obwohl gerade die Großabnehmer durch weitgehende Befreiung von Umlagen vergleichsweise niedrige Stromkosten gehabt haben. Für andere Industriezweige wie den Maschinenbau oder den Fahrzeugbau ist der Energiekostenanteil in der eigenen Fertigung vergleichsweise gering. Hier sind Energiekosten nicht der wichtigste Standortfaktor – aber es gibt sicherlich potenziell die Gefahr, dass ganze industrielle Wertschöpfungsketten in andere Weltregionen abwandern. Daher ist es sowohl für die Effektivität der Klimapolitik als auch für ihre ökonomischen Auswirkungen entscheidend, dass sich hier die Staaten weltweit auf möglichst vergleichbare Politikmaßnahmen einigen.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

 

ZUR PERSON

Prof. Dr. Christoph Weber ist Inhaber des Lehrstuhls für Energiewirtschaft an der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören insbesondere der Umbau des Energiesystems in Richtung erneuerbare Energien und die Berücksichtigung von Unsicherheiten in Methoden zur Entscheidungsunterstützung in der Energiewirtschaft. Professor Weber hat an der Universität Stuttgart Maschinenbau studiert und an der Universität Hohenheim in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Er war zu Forschungsaufenthalten unter anderem an der Johns Hopkins University in Baltimore und an der University of Auckland.